Storchenkamera
Eine Reise in den
Süden
Ein fiktiver Reisebericht von
Thomas Ziegler
Lassen Sie sich auf eine
fiktive Reise mitnehmen, die den Weg, den Sissi und Ludwig auf der
Ostroute zurücklegen könnten, beschreibt. Ich wähle bewusst diesen Weg, weil Sie auf der schon häufig gelobten Website
www.sosstorch.ch ausführlich die Reiseroute von Weststörchen verfolgen können. Mit 50-prozentiger Sicherheit wählen ja unsere Dinkelsbühler Storchenkinder die Ostroute als ihre Zugstrecke. Ich stütze mich dabei auf Wiederfunde eigener beringter Weißstörche aus Franken sowie auf die Satellitendaten von Ostziehern, die in den letzten vier bis fünf Jahren gewonnen werden konnten. Bitte seien Sie sich stets bewusst, dass es sich bei diesen Beschreibungen um eine
gedachte Reiseroute handelt, der wirkliche Weg der beiden aber im Dunkeln bleiben muss. Die andere Hintergrundfarbe weist also Texte aus, die zwar erdacht sind, sich aber auf wissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse stützen.
23. August 2001
Nachdem Ludwig und Sissi beschlossen hatten, ihre Reise anzutreten, schraubten sie sich am Vormittag des
23. August über den Dächern der Altstadt von Dinkelsbühl in einem Thermikschlauch schnell in eine Höhe von über 500 Metern. Nur noch als kleine Punkte sichtbar segelten sie in östlicher Richtung wörnitzabwärts davon. Sie sahen nach 20 Minuten unter sich das Weiltinger Nest vorbeigleiten, in dem das dortige Storchenpaar (es hatte kürzlich seine beiden Jungen durch Stromtod verloren) keine Notiz von den Überfliegern nahm. Ludwig und Sissi hatten inzwischen aber bereits so viel an Höhe verloren, dass sie am Südhang des Hesselberges eine neue Thermik suchten und fanden. Ein Segelflugzeug, das am nahen Flugplatz von Irsingen mittels einer Seilwinde zur gleichen Zeit gestartet war, nahm sich die beiden Dinkelsbühler Storchenjungen zu Hilfe und steuerte den gleichen Thermikschlauch an. In Windeseile hatten Mensch und Storch wieder die nötige Flughöhe gewonnen, um die nächste Etappe anzugehen. Durch das Hochsteigen über dem Hesselberg eröffnete sich den beiden Jungen ein weiter Blick Richtung Altmühlsee und Altmühltal. So verwunderte es nicht, dass Sissi und Ludwig dieses weite Wiesental ansteuerten und schließlich am Nordufer des Altmühlsees in der Nähe von Ornbau niedergingen. Dort schlossen sie sich bereits einer kleinen Reisegesellschaft an, die aus drei weiteren Jungstörchen bestand. Der ausgetrocknete Wiesenboden machte es unseren Jungen schwer, nach Regenwürmern zu suchen, denn diese hatten sich bei den herrschenden hohen Temperaturen in tiefere Bodenschichten zurückgezogen. Zum Glück konnten einige Mäuse erbeutet werden, die den Energieverlust der letzten Stunden mehr als wett machten. Da ein Weiterflug für heute nicht mehr "geplant" war, vertrieb man sich die Zeit bis zum Abend im Wiesmet, einem bedeutenden Naturschutzgebiet und suchte bei Sonnenuntergang einen Schlafplatz auf einer Scheune in Heglau. Dort sorgte die fünfköpfige Reisegruppe für einen kleinen "Volksauflauf", der erst beendet wurde, als die Nacht schon hereingebrochen war. Sissi und Ludwig hatten es am ersten Tag ihrer Reise langsam angehen lassen. Aber immerhin: Die ersten 30 Kilometer waren geschafft.
24. August 2001
Bereits kurz nach Sonnenaufgang flog unsere 5-köpfige Reisegruppe vom Dach der Scheune in die unmittelbar angrenzenden Wiesen. Der Morgentau machte diesmal sogar die Suche nach Regenwürmern zu einem erfolgreichen Vorgang. Als ein Bauer zusätzlich noch mit seinem Traktor des Wegs kam und mit dem Kreiselmäher eine Wiesenparzelle bereits zum dritten Male in diesem Jahr mähte, war der Tisch noch reicher gedeckt und selbst Mäuse bildeten nun eine leicht erreichbare Nahrungsquelle. Gegen 10:00 Uhr ging ein Ruck durch die Storchengruppe und ohne ersichtlichen Grund flogen alle fünf Adebare auf und schraubten sich über dem "Wiesmet" immer höher. Als das Kreisen beendet war, sah man sie zügig Richtung Südosten absegeln. Am Trommetsheimer Berg westlich von Weißenburg hatten die Jungstörche die erste Gleitstrecke hinter sich gebracht und einen neue aufsteigende Luftmassen gefunden. Diese brachten sie wieder auf die entsprechende Flughöhe, um weiter ohne jeglichen Flügelschlag ihren Zug fortzusetzen. Durch wissenschaftliche Untersuchungen weiß man inzwischen, dass diese Art der Fortbewegung einen 20-fach niedrigeren Energieaufwand erfordert als der Ruderflug, bei dem ständig mit den Flügeln geschlagen wird. 20 Kilometer im Ruderflug kosten unseren Störchen also genauso viel Energie wie sie auf 400 Kilometer im Segel- und Gleitflug benötigen. Als erste Barriere stellte sich bald darauf die Fränkische Alb, ein kleines Mittelgebirge von knapp 550 Metern Höhe, entgegen. Längere Zeit kreisten Sissi und Ludwig über der Bischofsstadt Eichstätt, ehe sie unweit von Ingolstadt das Tal der Donau erreichten, das für den weiteren Zugweg eine wesentliche Leitlinie darstellt und von den Störchen gerne als Orientierungshilfe genutzt wird. Jetzt - um die Mittagszeit und nach über 2 Stunden Flug - hatten unsere Dinkelsbühler und ihre Begleitung etwa 70 Kilometer zurückgelegt. Während unter ihnen die Anlagen der chemischen Industrie um Ingolstadt vorbeizogen und die Donau überquert wurde, hielten die Störche ihre südöstliche Richtung bei und erreichten - immer wieder von Kreisen in der Thermik unterbrochen - Niederbayern. Hier verließ unsere Gruppe den Lauf der Donau und gelangte am frühen Nachmittag gegen 15:00 Uhr an den Unterlauf der Isar bei Landau. Obwohl ein Stopp nicht eingeplant war, gingen die Störche in Folge fehlender Thermik hier zum erstenmal seit ihrem morgendlichen Aufbruch in einem abgeernteten Getreidefeld nieder. Diese landwirtschaftlich intensiv genutzte Gegend bietet Störchen nur wenig Anreize, so dass außerhalb der Zugzeit hier auch keine Störche zu sehen sind. Das nächste Nest befindet sich in einer Entfernung von über 20 Kilometern. Nach nur 20-minütiger Rast brach man wieder auf, ohne Nahrung gesucht zu haben und fand nach wenigen rudernden Flügelschlägen einen neue, günstige thermische Verhältnisse vor, die die Störche anschließend zügig in Richtung Osten segeln ließen. Um 17:00 - knapp sieben Stunden waren seit dem Aufbruch vergangen - kamen die Reisenden in den Dunstkreis der Drei-Flüsse-Stadt Passau. Hier im engen Tal am Zusammenfluss von Donau, Inn und Ilz fand man schließlich einen Landeplatz im Ortsteil Passau-Ilzstadt. Auf dem Sportgelände des dortigen Fußballvereins bezog man Posten auf kleinen Flutlichtmasten. Sissi, die keinen geeigneten Landeplatz mehr vorfand, musste sich mit dem Dach eines benachbarten Wohnhauses zufrieden geben. Als eine Stunde später das Training der Fußballmannschaft begann, flogen alle Störche wieder ab, kreisten lange über Passau und landeten erneut unweit des Sportplatzes in einer ufernahen Wiese. Nach wenigen erfolgreichen Beutestößen auf Heuschrecken und Käfer wurden die Vögel abermals - diesmal von einer Gruppe Radwanderer - aufgeschreckt und erneut zum suchenden Ruderflug gezwungen. Erst ein riesiger Gittermast einer Hochspannungsleitung, die ins benachbarte Österreich führt, ließ die Störche für den Rest des Tages zur Ruhe kommen. Die Länge der Tagesetappe lag bei 225 Kilometern, ein ordentlicher Wert für die heutigen Umstände der Reise.
25. August 2001
Der dritte Reisetag für Ludwig und Sissi steht heute bevor. Kurz nachdem die 5-er Gruppe am Morgen gegen 5:30 ihren Übernachtungsplatz verlassen hatte, um auf einer Sandbank an der Donau zu trinken und etwas Essbares aufzutreiben, segelten vom anderen Donauufer weitere 12 Störche herüber und landeten unmittelbar neben den beiden Dinkelsbühlern. Zunächst drohte man den "Neuen" mit pumpenden Flügelschlägen, aber bald hatte man sich arrangiert und neue Rangplätze bezogen. Offenbar hatte der neue Trupp nicht weit von unserer ersten Reisegruppe in Donaunähe genächtigt. Bereits um 7:15 Uhr erfolgte heute der Start zum Weiterflug Richtung Ostsüdost. Eine laue Nacht, die nur wenig Abkühlung brachte, ließ bereits zu dieser frühen Stunde die Temperatur auf nahe 20 Grad steigen. Die die Donau säumenden Hänge erlaubten somit schon frühzeitig die Entstehung wärmender Aufwinde, mit deren Hilfe sich die 17 Reisegefährten gemeinsam hochschraubten. Nun sind Störche nicht gerade Weltmeister des Höhenfluges, aber eine maximale Flughöhe von 2500 bis 4000 Meter ist schon drin, wenngleich die meiste Zeit des Fluges doch in Bereichen zwischen 500 und 1000 Metern Höhe abgespult wird. Im Gleitflug sinkt
natürlich die Flughöhe immer wieder deutlich ab, so dass dann die Werte auch niedriger liegen können. Bald befand man sich auf österreichischem
Hoheitsgebiet, doch diese Tatsache sowie die landschaftlichen Schönheiten des Weges fanden keinerlei Beachtung. Das Mühlviertel im Norden mit seinen bis 1000 Meter ansteigenden Bergen verhinderte es, dass Ludwig und Sissi in diese Richtung abdrifteten und sich doch lieber strikt an das Tal der nicht immer ganz blauen Donau hielten. Die oberösterreichische Landeshauptstadt Linz überflog man zum Glück in über 1000 Metern Höhe, so dass der dicke Rauch aus den Kaminen der großen Stahlwerke Ludwig, Sissi und die anderen "Flieger" nicht weiter stören konnte. Seit Passau hatte man weitere 70 Kilometer geschafft und ein Blick auf die Uhr zeigte bereits 10:30 Uhr. Die thermischen Bedingungen verbesserten sich mit den weiter steigenden Lufttemperaturen und im Mündungsbereich von Enns und Donau stieg man auf fast 2000 Meter Höhe. Aus dieser Perspektive wirkte die Autobahn A 1, wie ein schmales Band, auf dem sich eine nicht enden wollende Blechlawine aus den Urlaubsgebieten zurückquälte. Fliegen müsste man eben können! In der Storchengruppe befand sich jetzt neben 16 Jungstörchen, allesamt in diesem Jahr erst geboren und somit auf ihrem ersten Zug ins Winterquartier, auch ein einziger Altstorch. Dieser hatte heuer erstmals in Schauerheim bei Neustadt an der Aisch gebrütet und drei Junge zum Ausfliegen gebracht. Er kannte die Strecke von seinem ersten Zug im Jahre 1998 und freute sich schon auf die nun kommenden Flugkilometer. Zwischen Grein und Melk hat sich die Donau durch die südlichen Ausläufer des Waldviertels ein wildromantisches Tal gegraben. Nach dem weltbekannten Benediktinerstift Melk - die Flughöhe betrug zu diesem Zeitpunkt immer noch 500 Meter - verließen die Störche das Donautal und folgten in östlicher Richtung der Autobahn über St. Pölten. Die nun sichtbar werdenden Ausläufer des Wiener Waldes drängten die Gruppe auf den folgenden Kilometern für kurze Zeit nach Nordosten, bis man im Tullner Becken wieder auf die Donau stieß. Hier teilt sich der Fluss in zahlreiche Nebenarme und Altwässer, die ein Paradies für Störche darstellen können. Als man östlich von Tulln - bei Langenlebarn - zur Landung ansetzte, stieß man auf eine dort schon Nahrung suchende Gruppe von weiteren 34 Störchen. Diese waren am Morgen von ihren südböhmischen Brutplätzen im weiteren Umfeld der Stadt Jindrichuv Hradec gestartet und bis Tulln gereist. Nach 195 Flugkilometern und annähernd 8 Stunden ununterbrochenen Fluges hatten Sissi, Ludwig und die anderen gegen 15:15 Uhr wieder festen Boden unter den Füßen. Kinder aus Langenlebarn nahmen die ungewöhnlich große Schar von immerhin 51 Weißstörchen zum Anlass, mit ihren Eltern und vielen anderen Dorfbewohnern auf die Wiese zu eilen und das Schauspiel aus nächster Nähe zu erleben. Ob ein Stein, der Sissi nur knapp verfehlte, aus der Gruppe der Staunenden geworfen wurde, konnte nicht eindeutig festgestellt werden. Auf Grund dieses Vorfalls bewegte sich die Gruppe etwas weiter in für Menschen nicht mehr begehbare Bereiche und kam somit schnell außer Wurfweite. Auffällig blieb, dass die Störche nur wenig Nahrung aufnahmen. Den Rest des Tages stand man eng zusammen, ordnete - eine lebenswichtige Maßnahme - das Gefieder und flog erst gegen 19.30 Uhr wieder auf, um erhöhte Punkte zur Übernachtung ausfindig zu machen. 10 Störche flogen zielstrebig das Kirchendach der Pfarrkirche in Langenlebarn an, weitere 24 bezogen die Masten einer 360-kV-Hochspannungsleitung, deren Isolatoren und Leiterseile keine Gefahr für die Störche darstellten. 17 weitere Vögel - darunter auch Ludwig und Sissi - kreisten noch lange über dem weiten Flusstal. Am Rande eines Auwaldes, der hier das Donautal ein Stück begleitet, landeten schließlich fast alle auf abgestorbenen hohen Weiden. Lediglich zwei Vögel konnten sich im Kampf um den besten Platz nicht durchsetzen und wichen auf einen ungesicherten Mast einer 20-kV-Leitung aus. Schon beim Anflug kam einer der beiden mit den Flügeln gleichzeitig mit zwei Leiterseilen in Berührung, es gab einen lauten Knall, einen Blitz und der Unglückliche fiel wie ein Stein zu Boden und war anschließend im hohen Gras unter dem Mast verschwunden. Der mitfliegende Storch kam unbeschadet auf der Traverse zum Stehen. Ob er allerdings den gefährlich nahen Leiterseilen erfolgreich entgehen wird, muss der nächste Morgen zeigen.
26. August 2001
Schon eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang kam Bewegung in unsere weit verstreut nächtigende Reisegesellschaft. Nachdem einer der Störche abgeflogen war, folgten schnell weitere und innerhalb weniger Minuten - die Sonne ließ sich immer noch nicht sehen - standen alle Störche wieder vereint auf der großen Donauwiese. Nein - zwei fehlten. Während einer am gestrigen Abend sein Leben beim Anflug auf den Mast einer 20-kV-Leitung ließ, starb der Reisegefährte wenig spektakulär mitten in der Nacht. Lediglich ein Messinstrument in der Zentrale des Stromerzeugers zeigte für wenige Millisekunden einen Kurzschluss an, den selbst der "wachhabende" Mitarbeiter in Tulln nicht mitbekam. In jenem Moment hatte der auf der Masttraverse stehende Storch in einer Ruhepause einen Flügel gestreckt. dabei berührte er ein Strom führendes Leiterseil. Es gab einen Lichtbogen - in diesem Augenblick durchfließt der todbringende Strom den Vogelkörper - und ein weiterer Storch blieb im hohen Gras am Mastfuß liegen. Erst einige Wochen später werden bei Arbeiten am Mast zufällig zwei Skelette entdeckt, die die Arbeiter einer Baufirma als Reiher identifizieren. Auch heute erlaubte das prächtige Wetter einen Frühstart. Man
genehmigte sich abermals nur das Nötigste zum Fressen und zehrte statt dessen zum großen Teil von seinem nicht sehr üppigen Fettdepot. Jedes Gramm zu viel bedeutet für die Störche natürlich auch eine gewisse Einschränkung der Flugtauglichkeit. Deshalb hebt man sich üppige Mahlzeiten erst für die Zeit nach der Ankunft am Reiseziel auf und ist durchaus in der Lage, bei kritischen Etappen mehrere Tage und länger gänzlich ohne Nahrung auszukommen. Bald kreisten alle wieder in einer dichten Wolke über Tulln, diesmal - wegen des frühen Sonntagmorgens um 7:00 Uhr - ziemlich unbeachtet von einer noch schlafenden Bevölkerung. Bald sahen die Störche in südöstlicher Richtung die Millionenstadt Wien im Dunst auftauchen Zwischen den westlichen Stadtteilen und den Ausläufern des Wiener Waldes querte man einen 500 Meter hohen "Bergkamm" und sah in der Ferne eine weite flache Landschaft - die pannonische Tiefebene. Über dem Leithagebirge gewann die Gruppe noch einmal eine Rekordhöhe von über 3000 Meter, so dass beim Passieren des Südendes des Neusiedler Sees ungarisches Staatsgebiet und damit ein für Störche sehr attraktives Land erreicht war. In vielen Orten, die man jetzt überflog, gibt es mindestens ein, wenn nicht sogar mehrere Storchennester. Sissi und Ludwig wunderten sich nur, dass viele davon auf Masten gebaut waren, die man eigens für die Störche errichtet hatte oder die auch teilweise der innerörtlichen Stromversorgung dienen. Die flache Landschaft unter den Störchen hatte sich jetzt in den späten Vormittagsstunden schon so aufgeheizt, dass die warmen Aufwinde die Vögel in Rekordgeschwindigkeit davontrugen und für den heutigen Reisetag auch eine gewaltige Strecke versprachen. Nahe Veszprem sah man aus großer Höhe das Nordostufer des Plattensees in der flimmernden Luft erscheinen, doch an eine Rast war nicht zu denken. Die Weite der Puszta beeindruckte natürlich Sissi und Ludwig sehr stark, kannten sie doch Vergleichbares aus ihrer fränkischen Heimat nicht. Auf den riesigen Weideflächen tummelten sich ungezählte Rinder, Schafe und Ziegen. Inzwischen befand man sich schon fast sieben Stunden ununterbrochen in der Luft, als am Horizont ein silbernes Band aufleuchtete. Beim Näherkommen erkannten Ludwig und Sissi wieder "ihren" Strom, die Donau. Bei Dunaujvaros querten sie das gut einen Kilometer breite Flussbett und strebten unablässig weiter nach Südosten. Weitere zwei Flugstunden später begann ein deutlicher Sinkflug der Storchengruppe eine bevorstehende Landung anzukündigen. Nach fast neunstündigem Nonstop-Flug und zurückgelegten 395 Kilometern landete man nordwestlich von Szeged in einem großen Teichgebiet, dessen größte Wasserfläche, der Fehér-tó, ein überragendes Vogelschutzgebiet darstellt. Hier konnte man sich als Reisegruppe sicher fühlen und unter den vielen rastenden Gänsen und Enten endlich mal wieder aus dem Vollen schöpfen. Nur nebenbei bemerkten Ludwig und Sissi noch, dass sich weitere Störche in der Nähe aufhielten und beim morgendlichen Weiterflug sicher Anschluss finden werden.
27. August 2001
Nach einer herrlichen Nacht, in der die meisten Störche auf Bäumen genächtigt hatten - nur Ludwig blieb es vorbehalten auf einem der von kitschigen Postkarten bekannten Ziehbrunnen einen Schlafplatz zu finden - flog man im Morgengrauen an die zahllosen kleineren Fischteiche und Ludwig gelang hier der erste Fischfang seines noch kurzen Storchenlebens. Alle Störche der Gruppe jetzt noch zu zählen, fiel heute früh sehr schwer. Aber ihre Zahl dürfte um die Hundert betragen. Man ließ es gemütlich angehen. Lag es an den paradiesischen Zuständen dieses ausgedehnten Teichgebietes oder musste man sich ganz einfach von den letzten Flugtagen etwas erholen? Fest stand jedoch, dass an einen frühen Aufbruch nicht gedacht war. Immer wieder sausten kleine Trupps von Limikolen - Strandvögel, aus den Steppengebieten Russland und ebenfalls auf dem Zug in ihre Winterquartiere - um die Köpfe der Störche. Diese hielten sich bevorzugt an trocken gefallenen Uferrändern auf, wo sie in kleinen Pfützen immer wieder schwache oder schon verendete Fische erbeuteten. Mit dem Wetter hatten alle bisher ein riesiges Glück, denn die seit Tagen anhaltende Hochdrucklage versprach auch für heute einen guten Flug. Gegen 11:00 Uhr - also unerwartet spät - setzte sich die Hundertschaft der Störche dann doch in Bewegung. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis man die entsprechende Flughöhe erreicht hatte und in südöstliche Richtung - von Aufwinden getragen - davonsegelte. Nach einer weiteren Stunde passierte man die ungarisch-rumänische Grenze und erreichte bei 46.00 N 21.27 E die Stelle nordöstlich von Timisoara, an der vor vielen Jahren ein Storchentrupp aus Franken gerastet hatte und ein Jungstorch - wie könnte es anders sein - an einem gefährlichen Strommasten den Tod fand. Aus der Vogelperspektive und mit ihren sehr präzise arbeitenden Augen erkannten einige der Störche unserer Reisegesellschaft am Horizont eine sich langsam aufbauende und größer werdende Wand. Man hatte die ersten Ausläufer der Südkarpaten vor sich und damit das erste, schwierige Hindernis der bisherigen Reise. Ludwig und Sissi befanden sich bald in der Nähe der Heimat der Siebenbürger Sachsen, die alljährlich zu Pfingsten in Dinkelsbühl ein großes Treffen abhalten. Auch heuer, an Ludwigs Geburtstag, hatte man sich in der Stadt an der Romantischen Straße getroffen. Man folgte dem Flusslauf der Timis und bald hinter Lugoj befand man sich in einer völlig anderen Landschaft. Links und rechts türmten sich die noch Mittelgebirgscharakter besitzenden Vorberge der Südkarpaten bis knapp 1500 Höhenmeter auf und ganz in der Ferne erkannte Sissi den über 2500 Meter hohen Peleaga, den höchsten Berg im Blickfeld der Störche. Schnell hatten unsere Dinkelsbühler mitbekommen, dass auf den letzten Kilometern die warmen Aufwinde immer weniger wurden und alle Störche stark an Höhe verloren. Nun galt es schleunigst, wieder Thermik ausfindig zu machen, um nicht irgendwo in unwegsamem Gelände eine Bruchlandung zu riskieren. Die Hänge entlang des immer schmäler werdenden Flusstales der Timis gaben der Reisegruppe jedoch Gelegenheit, warme Aufwinde zu nutzen , um wieder auf 800 Meter über Grund zu steigen. Bei "Porta orientalia", dem engsten Einschnitt im Flusstal gewann man glücklicherweise erneut weiter an Höhe und mit Mühe und doch gelegentlich unterstützenden Flügelschlägen schwebten bald alle über weiten Almen und Matten dem Südhand des Gebirgsmassivs entgegen. Jetzt noch weiter in die Tiefebene zu segeln, machte für unsere Gruppe keinen Sinn, so dass man am Oberlauf eines größeren Nebenflusses der Donau eine Rastplatz suchte. Trotz des späten Aufbruchs am Morgen und der am Schluss äußerst schwierigen Gebirgspassage war man insgesamt nur sieben Stunden ohne Pause geflogen und hatte 275 Kilometer geschafft. Jetzt stand die Storchenschar in einer menschenleeren Gegend abseits jeglicher Siedlung nordöstlich von Turnu-Severin nicht weit vom Dreiländereck Rumänien-Jugoslawien-Bulgarien. Gegen 18:00, dem Landezeitpunkt, fielen schon lange Schatten auf die Hangwiese. Nicht weit von der soeben gelandeten Storchengruppe graste eine große Rinderherde. Dorthin flog man bald und in kurzer Zeit hatten sich alle Mitglieder des Zugtrupps in Reichweite der Herde versammelt. Man profitierte in der Folgezeit von der Tatsache, dass durch die Hufe der Rinder immer wieder Insekten hochgeschreckt oder Mäuse für kurze Zeit aus ihren Bauen vertrieben wurden. Mit ein paar schnellen Schritten hatte man die Unvorsichtigen in Schnabelweite und kurz darauf auch schon gepackt. So wurde die eine Stunde, die bis zum Einbruch der Dämmerung noch blieb, fleißig genutzt. Einen geeigneten Schlafplatz zu finden, war heute Abend alles andere als leicht. Die wenigen, weit verstreut stehenden Bäume boten kaum jedem Platz. Sissi hatte großes Glück und konnte sich gegen einen Widersacher, der den gleichen Seitenast eines frei stehenden, abgestorbenen Nadelbaumes beanspruchte, mit einigen gezielten Schnabelhieben durchsetzen und ihn in die Flucht schlagen. Bruder Ludwig verlor Sissi jedoch bald darauf aus den Augen. Mit einem Großteil der Gruppe war er hinter einer kleinen Bergkuppe verschwunden. Unweit dieser Stelle verlief zum Glück die Trasse einer Hochspannungsleitung, die von den Kraftwerken in Turnu-Severin ins Landesinnere führt. Auf diese künstlichen Bäume hatten es die Störche abgesehen und schon bald waren die restlichen Mitglieder des Trupps auf vier dieser Mastriesen "aufgebaumt" Als die Nacht hereinbrach, vernahmen Ludwig, Sissi und die anderen Reisegefährten über dem Gebirge leises Donnergrollen und sie sahen fernes Blitzen, beides die Vorboten für ein heraufziehendes Gewitter.
28. August 2001
Die Nacht verlief zugegeben recht ungemütlich für die gesamte Reisegruppe. Auch wenn das Gewitter sich mehr in der Gebirgsregion entlud, waren die Windböen sowie der kurze und heftige Platzregen erst einmal zu überstehen. Deshalb atmeten Sissi und Ludwig im Morgengrauen erst einmal durch, hatten sie doch das Schlimmste überstanden. Der kleine Fluss, in dessen Nähe sich der Übernachtungsplatz befand, - so viel konnten die Störche schon erkennen - war sehr stark angeschwollen und auf mehr als das Dreifache seiner ursprünglichen Breite angewachsen. Die Störche schüttelten sich ausgiebig das Gefieder, um es schneller zu trocknen und die alte Flugfähigkeit wieder zu gewinnen.
Danach verließen sie nacheinander oder in kleinen Trupps ihre "Schlafplätze" und wechselten an den über seine Ufer getretenen Wasserlauf. Dabei fanden auch Ludwig und Sissi wieder zueinander und sie versprachen sich, in Zukunft besser aufeinander aufzupassen und enger zusammen zu bleiben. Der kühle Morgen von gerade einmal 10 Grad im Schatten war nicht gerade dazu angetan, auf einen schnellen Aufbruch zu drängen. Erst als eine Gruppe Hirten sich der Reisegruppe näherte und durch lautes Rufen die grasenden Rinder zu sich dirigierte, kam Bewegung in die große Storchenschar und bald schraubten sich auch Ludwig und Sissi auf der Suche nach warmen Aufwinden in die Höhe. Vor den Störchen lag nun die große südrumänische Tiefebene, deren südliche Grenze und Grenzfluss zu Bulgarien wieder unsere alte Donau bildet. Zahlreiche, der Donau zueilende kleinere und größere Flussläufe stellten in der ersten Flughälfte eine gute Orientierungshilfe für die Storchenschar dar. Bald lag auch die Großstadt Craiova hinter ihr.
Ein strahlender Sonnenschein und weite Ebenen unter der Storchengesellschaft machten auch den heutigen Flugtag zu einem echten Erlebnis. Die warmen Aufwinde ließen die Vögel wie in einem Aufzug nach oben schießen, so dass Ludwig und Sissi etwas Angst bekamen, mit dem Atmen in Schwierigkeiten zu geraten. Um die Mittagszeit - etwa 150
Kilometer lagen hinter den Störchen - überquerte man bei Corabia die Donau und erreichte nun bulgarischen Luftraum. Die Frachter, die zu dieser Stunde die Donau befuhren, glichen eher Spielzeugschiffchen aus einem Spielzeugladen. In den letzten Stunden über Südrumänien schlossen sich weitere Störche den im lockeren Verband dahinsegelnden Artgenossen an, so dass bei Überschreiten der
bulgarischen Grenze gut und gerne 500 Adebare am Himmel ihre Bahn zogen. Ludwig und Sissi erkannten, dass einer der "Neuen" einen Satellitensender trug, dessen Antenne aus dem Rückengefieder etwas herausragte. Dieser "Satellitenstorch" war vor einigen Wochen als Jungstorch in der Schweiz besendert worden und hatte nicht wie seine Artgenossen die westliche Reiseroute gewählt, sondern strebte nun auf der Ostroute seinem Ziel entgegen. Ludwig und Sissi konnten nicht wissen, dass sich ihnen bald ein neues Hindernis in den Weg stellen würde. Kurz hinter Pleven, der ersten größeren Stadt Bulgariens, die sie in rasantem Gleitflug überflogen, tauchten am Horizont die nächsten Berge auf. Das Balkangebirge, das der gesamten Region ihren Namen gab, türmte sich bald vor ihnen auf. Bis Lovec kam man ja noch ganz gut voran, doch das sehr wellige, unübersichtliche und weiter ansteigende Gelände zwang die große Schar der Reisenden in immer engeren Windungen zu manövrieren und nach einem Passübergang zu suchen. Segelfliegende ziehende Vögel fliegen nicht einfach schnurstracks den nächst besten Weg übers Gebirge, sondern sie suchen sich die Geländestellen, an denen ein Übergang mit weniger Energie durchführbar ist. Als die Störche schließlich am frühen Abend endlich wieder einmal zur Landung ansetzten, hatten sie immer noch keine Passhöhe ausmachen können und mussten ihre Versuche deshalb auf den nächsten Tag verschieben. Bei Trojan am Fuße des Balkan wurde dieser Flugtag beendet. Nach gut 275 Flugkilometern konnten endlich verlorene Energiereserven aufgefrischt werden. Überragt wird diese Landschaft von einem der mit 2376 Metern höchsten Berge Bulgariens, dem Botev. Viele der
Artgenossen Ludwigs und Sissis umgehen das Balkangebirge, indem sie in westliche Richtung entlang der Berge fliegen und zwischen Varna und Burgas auf die Küste des Schwarzen Meeres treffen. Sollte sich auch unsere Reisegruppe für diesen Weg entscheiden, könnte man mit Sicherheit gefahrloser die nächste Etappe angehen. Warten wir gespannt auf den folgenden Zugtag.
29. August 2001
Eine aufregende Nacht liegt nun hinter unserer Reisegruppe. Angesichts der hohen Berge konnten Sissi und Ludwig - wie die anderen Störche auch - kaum ein Auge zumachen. Immer wieder schreckten sie hoch, während ein starker Wind ihnen mit Macht ins Gesicht blies. Aus dem nahen Trojan war bereits in der Abenddämmerung eine Gruppe von Jugendlichen herausgekommen, die die ganze Nacht unter den Schlafbäumen der Störche ein Fest feierten und ungewollt die großen Vögel zusätzlich unter Stress setzten. Als die Zuggemeinschaft im Morgengrauen wieder munter wurde, schliefen die jungen Leute noch
selig in ihren Schlafsäcken und keiner von ihnen bekam mit, als die vielen Hundert Störche ihren Schlafplatz verließen. Der Wind hatte sich unterdessen keineswegs beruhigt, sondern wehte äußerst unangenehm aus südlicher bis südöstlicher Richtung. Ausgerechnet heute konnten Ludwig und Sissi einen solchen Gegenwind überhaupt nicht gebrauchen. Trotzdem wollten sie den Übergang übers Gebirge wagen. Zu einer kurzen "Fresspause" - ein einheimischer Bauer war gerade dabei eine große Wiesenparzelle zu mähen - landeten alle in unmittelbarer Nähe des großen Traktors. Eine knappe Stunde später begab man sich mehr recht als schlecht gesättigt
endgültig in die Luft und strebte dem Gebirgskamm zu. Immer und immer wieder schraubten sie sich hoch, doch das Gleiten in die gewünschte Richtung wollte und wollte nicht glücken. Die Störche kamen keinen Zentimeter voran, sondern wurden im Gegenteil sogar zurückgetrieben. Unter diesen Voraussetzungen hatte es keinen Sinn, weitere Kräfte zu vergeuden. Deshalb ließ man sich wieder talwärts gleiten und landete bereits um die Mittagszeit unweit des Startortes am Rande eines kleinen Dorfes. Da der Wind auch später weiter blies und seine Stärke nicht gemäßigt hatte, blieb unseren Zugvögeln nichts anderes übrig als auf besseren Wind zu warten. Ohne noch weitere Nahrung aufzunehmen landeten die meisten der Störche auf der kleinen Moschee des Dorfes, auf zahllosen Dächern sowie auf den Bäumen, die den Südrand des Ortes vor allzu heftigem Wind schützen sollte. Diese Funktion erfüllten die Bäume heute vorzüglich.
30. August 2001
Die beste Nachricht des Tages gleich vorweg: Der Wind hat über Nacht gedreht und eine wesentlich günstigere Richtung eingeschlagen. Er weht jetzt nur noch leicht aus West. Mit diese Tatsache im Rücken war das Erwachen der Störche am Morgen wesentlich entspannter vor sich gegangen als gestern. Als man das kleine Dorf verließ, standen trotz der frühen Morgenstunde einige Einwohner freudig am Straßenrand und staunten über die selbst für bulgarische Verhältnisse große Zahl ziehender Störche. In islamisch geprägten Ländern und dieser Teil Bulgariens wird überwiegend von Mohammedanern bewohnt gelten unsere Störche als heilige Vögel und genießen jeglichen Schutz. Die Tatsache, dass sich die Störche im Herbst aus den Städten und Dörfern verabschiedeten und erst im Frühjahr wieder kamen, erklärte man sich damit, dass sie sich in dieser Zeit auf die Pilgerreise nach Mekka begeben. Diese für einen gläubigen Moslem einmal in seinem Leben vorgeschriebene "Hadsch", erhebt ihn bei sogar alljährlicher
Pilgerreise in den Rang eines Heiligen. Solche Gedanken bewegten unsere Störche im Augenblick jedoch nicht. Was aber doch günstige Winde bewirken können, erlebten Ludwig und Sissi in den nächsten Stunden in beeindruckender Weise. Ging es gestern überhaupt nicht voran, verlief die Querung des Balkangebirges heute wie im Flug. In einem tief eingeschnittenen Tal mit vorzüglichen Aufwinden überwand man das Hindernis bei einer Passhöhe, die zu erreichen man gestern alle Mühen vergeblich aufgewendet hatte. In der Nähe von Stara Zagora konnte endlich Entwarnung gegeben werden. Das Gebirge lag hinter den "Bergsteigern" und eine weite Ebene vor ihnen. Mit Riesenschritten eilte man dem Tal der Marica, einem bedeutenden Fluss Bulgarien und später Grenzfluss zwischen Griechenland und der Türkei, zu. Viele Städte und kleine Ortschaften hier besaßen ein oder mehrere Storchennester, deren Bewohner aber schon einige Tage früher aus ihrer Heimat verschwunden waren, so dass jetzt unsere große Zuggesellschaft nur nach wenig "Nachwuchs" durch vereinzelte Nachzügler bekam. Um die Mittagszeit - über vier Stunden war man bereits in der Luft - erreichten die Störche, immer dem Flusslauf der Marica folgend, das Dreiländereck Bulgarien-Griechenland-Türkei. Wie mit dem Lineal gezogen verlief die Reiseroute, sobald man türkischen Luftraum erreicht hatte. Sissi und Ludwig erfreuten sich jetzt vermehrt an den Besonderheiten türkischer Moscheen, die mit ihren schlanken, an überdimensionale Bleistifte erinnernden Minaretten so ganz anders aussahen als die heimische mächtige Georgskirche von Dinkelsbühl oder die benachbarte Paulskirche. An deren Anblick hatten sich die Dinkelsbühler Störche während ihrer Nestlingszeit und danach über 11 Wochen gewöhnt. Als man schließlich bald nach der Grenze die erste große türkische
Stadt Edirne überflog, waren alle aus Ludwigs und Sissis Reisegruppe fast sprachlos. Eine der schönsten Moscheen überhaupt, die Selimiye-Moschee, zog unter ihren Fittichen vorbei. Einige wären am liebsten auf der Kuppel gelandet oder hätten zumindest eine Landung auf einem der vier Minarette versucht. Doch an eine Reiseunterbrechung war nicht zu denken, hatte man doch gestern schon einen unfreiwilligen Ruhetag einlegen müssen. Also segelte und kreiste man in Richtung Südosten weiter auf dem noch zu Europa zählenden Teil der westlichsten Türkei. Man wollte unbedingt heute noch so weit wie möglich Richtung Istanbul vorankommen, aber bei Sinekli mussten schließlich alle wegen fehlender Thermik das Landemanöver einleiten. Je tiefer man kam umso deutlicher wurde im Landegebiet ein Gewirr von Stromleitungen und gefährlicher Masten sichtbar, so dass bei den Dinkelsbühler Storchenkinder sofort heimatliche Gefühle aufkamen. Ähnlich wie im fernen Deutschland haben sich in diesem Teil Europas verstärkt Industrieansiedelungen etabliert, deren großer Energiebedarf den Bau zahlreicher Stromleitungen erforderlich machte. Gegen 19:00 Uhr umkreisten 500 Störche in dichten Pulks die Strommasten, da es in dieser flachen, kaum Bäume bietenden Landschaft nur wenige erhöhte und damit sichere Landepunkte gab. Nach einigen Minuten des Kreisens und Suchens hatten sich auch Ludwig und Sissi einen Mast ausgesucht, auf dem sie schließlich vorsichtig landeten und zum sicheren Stand kamen. Doch längst hatten noch nicht alle Reisegefährten sich niedergelassen und als ein neuer Ankömmling ausgerechnet Ludwigs Sitzplatz beanspruchte, geriet dieser ins Straucheln, rutschte von der Masttraverse ab und geriet im Fallen für Sekundenbruchteile gleichzeitig mit zwei Strom führenden Leiterseilen in Berührung. Noch ehe Sissi reagieren konnte, gab es einen lauten Knall, einen kurzen Feuerschein und Ludwig schlug hart auf dem Boden unter dem Mast auf und rührte sich danach nicht mehr. Aus dem Schnabel lief ein wenig Blut und es war jedem sofort klar: LUDWIG WAR
TOT! Ein
kurzes Leben erlöschte 2000 Kilometer von der Heimat entfernt an einem von Menschen geschaffenen "Hindernis". Als später einige Ornithologen (das sind Vogelforscher) die Leitung entlanggingen, um nach weiteren Opfern früherer Unglücksfälle zu suchen, offenbarte sich ihnen eine regelrechte Storchentragödie. Auf 2 Kilometern dieser Leitung, an der Ludwig sein Leben verlor, entdeckten sie die Überreste von 13 weiteren Störchen, an einer benachbarten Trasse konnten noch einmal 8 Kadaver gefunden werden. Nicht auszudenken, wie hoch die Zahlen während des gesamten, einige Wochen dauernden Zuggeschehens sein müssen, zählt diese Gegend doch zum Hauptdurchzugsgebiet von einigen Hunderttausend Störchen im Herbst und Frühjahr. Auch die Ornithologen in der Türkei und ihre ausländischen Kollegen versuchen verzweifelt dieser Gefahr Herr zu werden, jedoch müssen sicher noch eine Vielzahl weiterer Todesopfer beklagt werden, bis die Stromversorger reagieren werden. Mit dieser für alle Fans der Dinkelsbühler Webcam zutiefst bestürzenden Nachricht endet der heutige Reisebericht, der erst in einer Woche wieder fortgesetzt werden kann. Bis dahin sollte Sissi - nach menschlichem Ermessen und wenn alles gut geht - Ägypten erreicht haben. Warten wir also gespannt auf die nächsten Enthüllungen einer bemerkenswerten Reise.
31. August
Einer sternklaren Nacht folgte ein malerischer Sonnenaufgang,
den Sissi allerdings nicht genießen konnte. Zu sehr schmerzten sie
noch die Ereignisse des gestrigen Tages, der mit dem Tod ihres
Bruders ein so tragisches Ende genommen hatte. Ein innerer Drang -
von Hormonen ausgelöst und gute drei Wochen anhaltend - veranlasste
Sissi und mit ihr die knapp 500-köpfige Storchenschar auch heute,
bei beginnender Thermik zum Weiterflug zu starten.
Als gegen 7 Uhr 30 die ersten Störche ihre Ruheplätze
verließen und nach günstigen Aufwinden suchten, schloss sich Sissi
ohne Zögern an. Eine Futtersuche unterblieb, sie hätte wohl am Übernachtungsplatz
auch wenig Aussicht auf Erfolg gehabt. Ein steinharter,
vegetationsloser, ausgetrockneter und stark erodierter Boden bot
nicht einmal mehr Reptilien - ebenfalls eine mögliche
Storchennahrung - einen geeigneten Lebensraum. Auch alle
Großinsekten hatten nach der Ernte das Weite gesucht und schieden
somit ebenfalls als Beutetiere aus. Sissi war auch nicht in
Fresslaune und eine mehrtägige Fastenkur kann einen Storch
ebenfalls nicht so schnell aus der Ruhe bringen. "Go
East!", dachte Sissi und versuchte den Reisegefährten zu
folgen. In der Gruppe geht alles doch viel einfacher und Sissi
fühlte sich auch ohne Begleitung ihres Bruders Ludwig sicher und
geborgen. Nach knapp drei Flugstunden machte sich eine deutliche
Unruhe unter den Störchen breit und am Horizont sah man bereits die
Industrieanlagen der größten türkischen Stadt Istanbul
auftauchen. Die Luft wurde immer schlechter je näher man der
Großstadt kam. Einige der erfahreneren Störche, die die Strecke
schon mehrmals geflogen waren, rieten, die Metropole südlich zu
umfliegen und damit eine gewisse Strecke über das Marmarameer zu
fliegen. Dies berge zwar auch eine gewisse Gefahr, sei aber dennoch
der bessere Weg. Sissi wollte da nicht wiedersprechen und schloss
sich deshalb der Meinung der "Alten" an. Sie werde schon
noch bemerken, was das Gerede von den Gefahren wohl bedeute. Als man
die ersten Industrieanlagen überflog, öffnete sich erstmals der
Blick auf das offene Meer, das sich nur wenige Kilometer in
südlicher Richtung erstreckte. Der Anblick einer so großen
Wasserfläche ließ in Sissi doch einiges an Unbehagen aufkommen. So
riskierte sie nur einen kurzen Blick in Richtung Norden, wo im Dunst
die Minarette zahlloser Moscheen herüberblinkten und sich das
Mittelmeer zu einem nur wenig mehr als einen Kilometer breiten Band,
dem Bosporus, verengte.
Kaum hatten die Störche den Strand des Mittelmeeres erreicht
und waren auf die freie Wasserfläche hinaus geflogen, wurde Sissi
klar, von welcher Gefahr die alten Störche vorher gesprochen
hatten. Urplötzlich verlor man an Flughöhe und alle begannen bald,
mit den Flügeln zu schlagen, um den nötigen Auftrieb zu gewinnen.
Da das Wasser um diese Jahreszeit deutlich kälter ist als die
Landmasse, entwickeln sich wie jetzt gerade über dem Marmarameer
keinerlei tragenden Aufwinde. Nach wenigen Minuten hatten alle
Reisenden weiter an Höhe verloren und quälten sich nun im Tiefflug
über die ruhig liegende Wasserfläche. Da die Sicht gut war und die
Wetterlage günstig, erkannte Sissi nach einer Viertelstunde im
Dunst die asiatische Küste. Nach weiteren 20 Minuten hatte sie
glücklicherweise wieder "festen Boden" unter den
Flügeln. Während der Überquerung der Wasserfläche konnte Sissi
in mindestens einem Falle beobachten, wie einer ihrer Gefährten
erschöpft die Wasseroberfläche berührte, ins Wasser fiel und
trotz mehrerer Starversuche schließlich leblos im Wasser trieb.
Noch einmal Glück gehabt, dachte Sissi und schraubte sich bei
Maltepe auf asiatischem Boden beschwingt in luftige Höhen. Auf dem
Weg bis Izmit fielen Sissi die zahllosen zerstörten Dörfer und
Städte auf. Bei einem der schwersten Erdebeben kamen hier im Jahre
1999 etwa 50000 Menschen ums Leben. Die Spuren werden mit Sicherheit
noch viele Jahre sichtbar bleiben. Die bisher flache Landschaft ging
bald in eine einem Mittelgebirge ähnliche Gegend über, ehe man -
es war bereits später Nachmittag - eine flache Hochebene erreichte.
Man war in Anatolien angekommen.
Nach etwas über 300 Flugkilometern kam der Reisegruppe ein
silbernes Band entgegen. Hier war ein Fluss auf etwa 40 Kilometer
Länge zu einem großen See aufgestaut. Es war leicht, hier einen
geeigneten Landeplatz zu finden, war der Wasserstand des
künstlichen Sees doch wegen der langen sommerlichen Trockenzeit
nicht sehr hoch. Bald landeten die Störche in der seichten
Uferzone. Zuerst wurde ausgiebig getrunken und im Uferbereich nach
verendeten Fischen, nach Egeln und anderem Getier gesucht. Aber auch
hier blieb die Ausbeute eher dürftig. Um nachts nicht von
streunenden Hunden überrascht zu werden, suchten gegen 20 Uhr alle
Störche Schutz auf Bäumen, die vereinzelt entlang des Stausees zu
finden waren. Mit Sissi hatten sich noch 30 Artgenossen den gleichen
Baum ausgesucht, so dass die erste türkische Nacht für unsere
Dinkelsbühlerin angenehm verlaufen konnte. Schnell senkte sich der
Abend über die Weltenbummler und der helle Mond beleuchtete die
Szene mit seinem magischen Licht. In der Ferne hörten alle das
Heulen der Hunde.
1. September
Heute stand die Durchquerung eines Großteil Anatoliens auf dem
Flugprogramm unserer Störche.
Sissi ließ es am Morgen langsam angehen. Während viele ihrer
Schlafgenossen schon im Morgengrauen ans Ufer des Stausees segelten,
um dort nach Fressbarem Ausschau zu halten, zog es Sissi vor, die
nächsten zwei Stunden ausschließlich der Gefiederpflege zu widmen.
Dazu schnäbelte sie jede einzelne der wichtigsten Federn ausgiebig
durch, brachte sie in die richtige Position und fettete vor allem
Arm- und Handschwingen sowie die der Steuerung dienenden
Schwanzfedern sehr sorgfältig ein. Dabei übersah sie sogar, dass
viele ihrer Reisegefährten schon längst wieder aufgebrochen waren,
obwohl hier in fast 1500 Metern Höhe noch ein kühler Wind blies
und bereits am Morgen mächtige Staubfahnen aufwirbelte. Als Sissi
endlich startete, gehörte sie bereits mit zu den letzten ihrer
Zunft, doch in der recht eintönigen Landschaft schlug sie wie von
selbst eine weiter nach Südosten weisende Richtung ein.
Anders als auf ihrem bisherigen Weg durchflog sie weitgehend
unbesiedelte Gebiete. Größere Städte waren weit und breit nicht
mehr zu entdecken. Die kleinen Ansiedlungen zeigten nur, dass dieser
Lebensraum von nur wenigen Menschen bewohnt wurde. Große Schaf- und
Ziegenherden traf Sissi an den Orten, an denen noch spärliche
Vegetation zu entdecken war. Bald fand Sissi wieder Anschluss an
ihre Artgenossen und gemeinsam strebte man dem heutigen Tagesziel
zu. Kleinere Hügelketten, die aus der weiten Hochfläche
gelegentlich emporragten, wurden problemlos überflogen und Sissi
genoss die spürbare Abkühlung, als sie über die 2000 Meter Grenze
stieg. Dass dabei aber der Sauerstoffgehalt der Luft merklich abnahm
und das Fliegen erschwerte, bemerkte Sissi erst, als die
Ausgangsflughöhe wieder erreicht war.
Als sie sich ihre Reisegefährten nach längerer Zeit wieder
einmal genauer ansah, bemerkte sie einige Neuankömmlinge. So hatten
sich einige Schwarzstörche unter ihre weißen Vettern gemischt und
beabsichtigten nun ebenfalls gemeinsame Sache mit ihren Verwandten
zu machen. Beinahe hätte sie eine kleine Gruppe großer, ebenfalls
schwarz-weiß erscheinender Vögel für Ihresgleichen gehalten. Doch
bei genauerer Betrachtung erkannte sie, dass es Schmutzgeier waren,
die hier in Anatolien zu Hause sind und heute die gute Thermik über
der Hochfläche nutzten, um nach Aas Ausschau zu halten. Als man
gerade wieder einen etwas höheren Bergkamm überflogen hatte,
entdeckte Sissi als erste am Horizont ein gleißend helles Band, das
sie zunächst wieder an eine große Wasserfläche erinnerte. Doch in
dieser Einöde, tausend Meter über dem Meeresspiegel konnte es wohl
kaum eine Küstenlinie sein. Auch fiel der Erstfliegerin sogleich
auf, dass beim Näherkommen die Farbe sich in ein leuchtendes Weiß
verwandelte. Nur Zucker oder Salz - das wusste Sissi bereits -
konnte sich mit diesem Weiß messen. Die aufmerksame Beobachterin
sah in der Folgezeit, wie sich Rauchfahnen gleich aus dieser Fläche
mächtige Wolken erhoben und vom Wind in ihre Richtung geblasen
wurden. Da verspürte Sissi ein mächtiges Brennen in den Augen und
die Nickhaut über ihren Augen musste Schwerstarbeit verrichten, um
wieder für klaren Durchblick zu sorgen und eine ungetrübte Sicht
zu gewährleisten. Sissi hatte den Tuz Gölü erreicht, den
größten Salzsee in dieser Region. Die Wasserfläche war jedoch um
diese Zeit auf einen relativ kleinen Bereich zusammengeschrumpft.
Die lange Trockenheit mit wenigen Niederschlägen und hoher
Verdunstung hatte dafür gesorgt, dass Salzkristalle den Boden
bedeckten und jetzt vom Wind hochgewirbelt wurden. Ein
eindrucksvolles Schauspiel.
Einige Ornithologen aus der Heimat von Sissi hatten sich derweil
weit von der einstigen Uferlinie entfernt versammelt und ihre
Spektive in Richtung der noch verbliebenen Wasserfläche gerichtet.
Dort entdeckte beim Überfliegen auch Sissi ein zart rosafarbenes
Band. Flamingos!! Etwa 5000 dieser Tiere konnte Sissi entdecken. Sie
hatten dort in diesem Jahr wieder erfolgreich gebrütet.
Eine Stunde später - man befand sich immer noch im Becken des
Tuz Gölü - wurde der nächste Übernachtungsplatz angesteuert. Die
Reisegruppe fand ihn schließlich nordwestlich von Aksaray an einem
kleinen Flusslauf, der sofort nach der Landung zu einem ausgiebigen
Bade einlud. Selten hatte sich Sissi so nach einer Erfrischung
gesehnt und sie zögerte keine Sekunde nach einer weiteren 300
Kilometer langen Etappe ins Wasser zu schreiten. Mit leicht
gespreizten Flügeln ließ sie das kühle Nass über ihr Gefieder
laufen und für Sekundenbruchteile tauchte sie immer wieder fast
komplett unter. Nach der ziemlich staubigen und salzigen Etappe
bedeutete diese Art der Körperpflege eine echte Notwendigkeit. Dass
darüber hinaus auch sonst der Tisch ziemlich reich gedeckt war und
sich alle nach einer längeren Fastenkur wieder einmal satt fressen
konnten, ließ die Nacht unweit der Hauptverkehrsstraße zwischen
Konya und Kayseri zu einer angenehmen Pflicht werden. Hörte Sissi
anfangs noch das Dröhnen der Lastautos herüberdonnern, fiel sie
bald in tiefen Schlaf. Das Dach einer riesigen Feldscheune bot ihr
und vielen anderen Störchen der Reisegruppe die nötige Sicherheit
und Geborgenheit.
2. September
Ein neuer Morgen brach an. Fernab rauschte wieder der Verkehr
der Fernstraße und das Gebimmel kleiner Glöckchen ließ eine nahe
vorbeiziehende Ziegenherde erahnen. Für Sissi und ihre Gefährten
kein Grund zu irgendwelcher Panik. Doch irgend etwas war anders als
an den vergangenen Tagen. Während bisher die Morgendämmerung nur
von kurzer Dauer war, hatte es nun den Anschein, dass es einfach
nicht heller werden mochte. Sissi blickte deshalb etwas verängstigt
in den mit Wolken verhangenen Himmel. Sie sah nach Südosten und
entdeckte über dem Massiv des fast 3000 Meter hohen erloschenen
Vulkans Melendiz Dag eine riesige schwarze Gewitterfront, die sich
ihrem Standplatz schnell zu nähern schien. Im gestrigen Dunst war
ihr der mächtige Berg fast gar nicht aufgefallen, umso bedrohlicher
wirkte er dafür jetzt. Auch Sissis Reisegefährten hatten die
nahende Gefahr bemerkt und stemmten sich mit allen Kräften gegen
den aufkommenden Wind, der riesige, vom Salz des Tuz Gölü
durchsetzte Staubwolken vor sich hertrieb. "Wie gut, dass wir
heute noch nicht aufgebrochen waren! Gar nicht auszudenken, wenn uns
die Front während des Fluges überrascht hätte", dachte
Sissi. Auch einige Hirten hatten sich inzwischen dem
Übernachtungsplatz genähert und suchten Schutz unter dem Dach der
großen Feldscheune. Innerhalb weniger Minuten hatte sich der Himmel
fast gänzlich verdunkelt, Blitze leuchteten, Donnerschläge
krachten und ein Unwetter brach los, von dessen Stärke selbst die
Einheimischen beeindruckt waren. Der ausgetrocknete Boden konnte die
ungeheuren Regenmengen in keinster Weise aufnehmen. Schnell bildeten
sich überall Pfützen und nach einer halben Stunde standen weite
Fläche der Hochebene unter Wasser. Kleine Bäche schwollen zu
reißenden Flüssen an, die alles mit sich rissen. Sissi hatte in
ihren bisherigen vier Lebensmonaten Vergleichbares noch nicht
erlebt. Auf dem Höhepunkt des Unwetters mischten sich sogar noch
Hagelkörner in das Inferno, die an Sissi nicht ganz spurlos
vorübergehen sollten.
Nach zwei Stunden war die Kraft der Naturgewalten gebrochen und
Wind und Regen ließen deutlich nach. Als Sissi ihre Flügel
ausschüttelte, um ihre Federn schneller trocknen zu können,
verspürte sie im Bereich ihrer rechten Schulter einen stechenden
Schmerz. Einige der größten Hagelkörner hatten sie doch schlimmer
erwischt als befürchtet. Mit vor Schmerz leicht hängendem Flügel
versuchte Sissi, ihren erhöhten Standplatz auf der Scheune zu
verlassen. Doch dies gelang mehr schlecht als recht. Sie rutschte
über das Dach und landete reichlich unsanft auf dem Boden. Um ein
Haar hätte sie einer der Hirten, die ebenfalls wieder zum Aufbruch
bliesen, greifen können. Doch im letzten Moment mobilisierte sie
alle Kräfte und segelte im Tiefstflug über einen knapp drei Meter
breiten, Hochwasser führenden Graben und kam am anderen Ufer zu
stehen. Am neuen Ruhepunkt bedeutete die abziehende Herde mit ihren
Hirten keine Gefahr mehr.
An eine Fortsetzung der Reise war unter diesen Umständen heute
nicht mehr zu denken. Während die meisten ihrer Begleiter bald
darauf weiter nach Südosten strebten, blieb Sissi einsam zurück
und war bemüht, ihre lädierte Schulter zu schonen und alle
weiteren Unternehmungen zu Fuß zu erledigen. Die Schlechtwetterzone
hatte sich inzwischen gänzlich verzogen und unser Storchenmädchen
machte sich langsam auf Erkundungstour. Beim Schreiten über den vom
Regen aufgeweichten Boden schmerzte die Schulter kaum. Musste sie
aber den verletzten Flügel bewegen, wäre sie am liebsten im
Erdboden versunken. Doch alles Jammern half nicht. Sissi wusste
jedoch von ihren Eltern, dass Prellungen wie in diesem Falle bei
Vögeln schnell heilen und sich ein Bluterguss innerhalb eines Tages
auflösen kann. Der Regen hatte für unsere Störchin auch einige
positive Seiten mit sich gebracht. So fand sie eine ganze Reihe
ertrunkener Eidechsen und zahllose tote Insekten und konnte sich
richtig satt fressen. Die meiste Zeit stand Sissi auf einem kleinen
Hügel gegenüber der großen Scheune und döste in der jetzt wieder
scheinenden Sonne.
Am späten Nachmittag, sie wollte gerade versuchen, ihren
Flügel etwas stärker zu belasten und ein Stück zu fliegen,
entdeckte sie über dem Horizont eine aus vielen hundert Pünktchen
bestehende Wolke. Als diese Wolke näher kam, schoss es Sissi durch
den Kopf. Störche!!!! Mit anhaltendem Klappern versuchte sie, ihre
Artgenossen auf sich aufmerksam zu machen. Und diese Masche half.
Bald gab es ein Rauschen um sie herum und nach und nach landete der
gesamte Flugverband in Sissis Nähe. Endlich nicht mehr allein!
Sofort fühlte sie sich wohler und ihre Prellungen waren kaum mehr
spürbar. Als sich die Neuankömmlinge beruhigt hatten, kehrte
schnell Ruhe ein und bald hatten die meisten aus der Gruppe ihren
Übernachtungsplatz gefunden. Sissi bezog wieder Posten auf dem Dach
der Feldscheune und ließ keinen anderen Interessenten allzu nahe
herankommen. Da ihre Schmerzen weiter nachgelassen hatten, stieg in
Sissi die Hoffnung, ihre Reise bereits morgen fortsetzen zu können.
3. September
Ein strahlender Morgen brach an. Nicht zu vergleichen mit den
Geschehnissen des vergangenen Tages. Auch Sissi streckte sich bei
Tagesanbruch und stellte zufrieden fest, dass sich ihre
Schulterprellung wesentlich gebessert hatte und einem Weiterflug
heute sicher nichts mehr im Wege stehen würde.
Die Sicht gestaltete sich klar und ließ die Ausläufer des
Taurusgebirges zum Greifen nahe erscheinen. Der morgendliche
Aufbruch verlief nach dem gleichen nun schon zur Routine gewordenen
Muster wie bisher und mit aufkommender Thermik schraubten sich alle
in einem dichten Pulk in die Höhe. Sissis Angst vor dem Fliegen war
bald wie weggeblasen und mit jedem Flügelschlag gewann sie die alte
Sicherheit, die vor der Verletzung bestand, zurück. Sie sah die
große Straße unter ihr, auf der die Autos und Lastwagen wie kleine
Spielzeugmodelle dahinglitten. Der gesamte Tross schien diesen
Verkehrsweg als Leitlinie zu nutzen. Nach einem zweistündigen Flug
hatte man die Gebirgskette erreicht und suchte nun eine günstige
Stelle zur Überquerung der Barriere. Eigenartigerweise brauchte man
sich nur am Verlauf der Europastraße Nr.5 zu orientieren, um bei
einer Passhöhe in etwas über 1000 Metern über dem Meeresspiegel
auch für die ziehenden Störche den besten Übergang zu finden.
Kurz hinter Pozanti war es schließlich geschafft und Sissi zeigte
sich noch lange beeindruckt von den sie umgebenden 3500 Meter hohen
Bergen.
Mit Volldampf ließ sich der Trupp der mittlerweile knapp 1000
Störche am Südabhang des Taurusgebirges in die Tiefe gleiten.
Besonders neidisch schielten einige Brummifahrer, die sich in
endlosen Serpentinen nach unten quälten, auf die fast schwerelos
dahinsegelnden Störche. Sissi war über die hohe
Reisegeschwindigkeit so sehr erfreut, dass sie ihre Schmerzen total
vergaß. Neugierig blickte sie vorwärts, wo feuchtschwüle
Luftmassen das Erreichen eines völlig anders gearteten
Etappenzieles ankündigten. Vor den Störchen breitete sich das
Mündungsdelta des Ceyhan aus. Intensiv genutzt gedeihen hier
Bananen und ausgedehnte Baumwollfelder lassen Erinnerungen an
amerikanische Verhältnisse aufkommen, nur das Singen der schwarzen
Negersklaven blieb ungehört. Dafür lärmten Singzikaden um die
Wette und Sissi hatte bei der Landung in einem ehemaligen Reisfeld
Mühe, ihr eigenes Klappern zu hören. Überall war das Tuckern von
Traktoren zu vernehmen, viele Bauern arbeiteten auf den Feldern und
Bewässerungspumpen ließen ihr wenig melodisches Lied erklingen.
Besonders angetan war Sissi von ihrem Rastplatz nicht. Einige Male
wurde der Trupp durch menschliche Störungen aufgescheucht und erst
nach längerem Kreisen entdeckte Sissi als einzige höhere Struktur
in der weiten Ebene einen etwa 50 Meter hohen Wasserturm. Diesen
steuerte sie sogleich mit mehreren Mitgliedern ihrer Reisegruppe an.
Mühelos nahmen alle auf dem Rand des oben offenen Turmes Platz und
freuten sich zunächst, dass man einen vor Störungen sicheren Platz
gefunden hatte.
Eine plötzlich aufkommende Unruhe, deren Ursache unbekannt
blieb, führte dazu, dass einige Begleiter Sissis im Kampf um den
besten Standplatz den Halt verloren und vom Betonrand abglitten.
Dabei verloren sie so viel an Höhe, dass drei Störche in das etwa
5 Meter unterhalb ihres Ruheplatzes stehende Wasser fielen. Was
zunächst lustig aussah, entpuppte sich bald als blutiger Ernst.
Instinktiv versuchten die Unglücksraben - mit den Flügeln
Schwimmbewegungen ausführend - aus dem "Gefängnis" zu
entkommen. Doch immer wieder rutschten sie von der glatten Betonwand
ab und ein Auffliegen "aus dem Stand" war für die
Störche, zumal sie völlig durchnässt waren, ebenso wenig
möglich. So blieb den Freunden nichts anderes übrig, als den
stundenlangen Todeskampf der Pechvögel hilflos mit zu verfolgen.
Erst als die Nacht hereingebrochen war, wurden die Bewegungen der um
ihr Leben kämpfenden Störche immer schwächer und erloschen
schließlich ganz. Sissi stand geschockt und reglos da, wusste sie
doch zu genau, dass sie abermals gute Freunde verloren hatte. Dabei
hätte eine Abdeckung auf dem Wasserturm das Unglück so leicht
verhindern können. Sissi wagte gar nicht daran zu denken, wie viele
ihrer Artgenossen auf ähnliche Weise seit dem Bau des Turmes ums
Leben gekommen sein mochten. Sissi konnte in dieser Nacht aus
verständlichen Gründen kaum Schlaf finden.
4. September
Die ganze Nacht kam Sissi nicht aus dem Grübeln heraus. Immer
wieder musste sie an ihre toten Freunde im Becken des Wasserturms
denken. Jetzt im ersten Licht eines herauf dämmernden Tages sah
alles so friedlich aus und ließ nichts mehr von den Geschehnissen
der letzten Stunden erahnen. Die Kadaver der ertrunkenen Tiere waren
bereits untergegangen und nur noch einige Federn, die sich im
Todeskampf gelöst hatten, drehten sich ruhig auf der tückischen
Wasseroberfläche.
Der Lichtschein der Großstadt Adana, der während der ganzen
Nacht die Szene in ein milchiges Licht getaucht hatte, verblasste
jetzt immer mehr und Sissi flog, so schnell es ging, von ihrem
Aussichtsposten in ein angrenzendes Reisfeld. Der Hunger war ihr
gehörig vergangen, so dass sie eher lustlos an einigen der dort
zahlreich vorhandenen Krebschen herumstocherte. Auf einem Bein
stehend wartete sie ab, bis auch andere Störche aus ihrer
Begleitung die Morgentoilette begannen. Doch jäh wurde die
friedliche Idylle unterbrochen. Ein riesiger Vogel näherte sich mit
hoher Geschwindigkeit und immer lauter werdend der ruhenden
Reisegruppe. Als er dicht über den Köpfen der Störche eine Kurve
drehte und sich gleichzeitig ein feiner Regen auf die verängstigten
Vögel senkte und ihr Gefieder mit einer stinkenden Brühe
beschmutzte, bemerkte einer der älteren Störche: "Wir müssen
hier schleunigst weg. Die Sprühflugzeuge sind wieder unterwegs und
lassen aus ihren Tanks giftige Pestizide herabregnen. Wenn wir nicht
aufpassen, macht das Gift auch uns krank." Sissi ließ sich
dies nicht zweimal sagen. Noch nie war sie so schnell gestartet wie
heute und das trotz ihrer noch immer nicht ganz wieder hergestellten
Schulter. Einige Spritzer der Giftbrühe, die aus dem Flugzeug
stammte, hatte auch unsere Dinkelsbühlerin abbekommen. Doch als sie
hoch über dem Ceyhan-Delta kreiste, hatte sie schnell wieder mit
anderen Problemen zu kämpfen.
Sie näherte sich nämlich der Stelle, an der - ob sie wollte
oder nicht - ein dramatischer Richtungswechsel ihres Fluges statt zu
finden hatte. Dieser verhindert nämlich, dass unsere Adebare in
Indien landen statt nach Afrika zu fliegen. Dieser Richtungswechsel
geschieht genau am östlichen Ende des Mittelmeeres, dem Golf von
Iskenderun. Bisher waren Sissi und ihre Freunde immer in
südöstlicher Richtung geflogen, doch jetzt auf Höhe der Stadt
Ceyhan drehten alle Flieger immer mehr auf Südkurs. Dass dabei die
meisten - Sissi eingeschlossen - nicht davor zurück schreckten, ein
gutes Stück über den Golf von Iskenderun und damit über offenes
Wasser zu fliegen, kann uneingeschränkt bewundert werden. Eine
unsichtbare Hand, die Sissi nur aus Erzählungen älterer
Reisegefährten kannte, schien alle in die neue Richtung zu zwingen.
Knapp zwei Stunden über offenes Wasser zu fliegen, stellte für
alle einen gewaltigen Kraftakt dar, dem auch wieder einige der
Mitflieger zum Opfer fielen. Doch Sissi hatte es längst aufgegeben,
Sentimentalität zu zeigen. Sie war gewillt, der Realität mit
offenen Augen zu begegnen. Als man bei Iskenderun wieder Land
erreicht hatte, war der Kompass endgültig auf "Süd"
eingestellt. Man erzählte sich in der Gruppe von einigen Fällen,
bei denen diese Umstellung aus unbekannten Gründen nicht erfolgte.
Diese "Ausreißer" gelangten dann doch tatsächlich auf
die arabische Halbinsel und sogar bis nach Indien, ihre
Geburtsheimat erreichten diese jedoch nie mehr wieder. So wollte es
Sissi bestimmt nicht ergehen. Sie hatte schon vor, irgendwann einmal
wieder fränkische Lande zu erreichen und dort auch selbst für
Nachwuchs zu sorgen.
Über Iskenderun schraubten sich die Störche schnell wieder in
die Höhe. Alles ging wie von selbst und die Ausläufer des
Antitaurus, die sich gleich hinter Iskenderun auftürmten, hatten
für die Reisegruppe längst ihre Schrecken verloren. Einem
Fahrstuhl gleich bei hervorragender Thermik schossen alle über den
Belen-Pass und erreichten kurz vor Mittag die heißeste Gegend der
Türkei unweit der syrischen Grenze. Dort bei Antakya im Bereich des
früheren Amik Gölü rasteten einst große Storchenscharen. Nachdem
der See trocken gelegt wurde, um landwirtschaftliche Nutzfläche zu
schaffen, bietet er den Störchen keinerlei Anreize mehr, so dass
Sissi und ihre Freunde ohne Stopp weitersegelten. Am frühen
Nachmittag überflogen sie die türkisch-syrische Grenze.
Während ein Teil der Kinderbringer nun weiter östlich auswich,
um das Tal des Orontes zu erreichen, wählte Sissi mit wenigstens
200 anderen die "klassische Strecke", die näher an der
Mittelmeerküste rund 20 Kilometer landeinwärts verläuft. Hier am
Westabhang eines Gebirgsrückens herrschten heute ausgezeichnete
Flugbedingungen, so dass man Syrien an dieser Stelle in vier Stunden
überflogen hatte. Bei nachlassender Thermik überflog man noch die
Grenze zum Libanon und landete endlich nach über acht Stunden Flug
und weiteren 320 Kilometern Flugstrecke dicht hinter der Grenze in
der Nähe von Al Majdal an den nördlichen Ausläufern des
Libanongebirges.
5. September
Der 14. Tag der Reise in den Süden brach an und Sissi hatte ein
Gebiet erreicht, dessen politische Instabilität sie momentan wenig
beunruhigte. Vielmehr betrachtete sie ihre Mitflieger, die die Nacht
ebenso wie sie auf hohen Pinien am Rande des libanesischen Dorfes
verbracht hatten mit höchstem Interesse. Aus den angeregten
Unterhaltungen ihrer Begleiter hörte sie heraus, dass die meisten aus
Ländern Osteuropas stammten, vor allem aus Polen, der Ukraine und
Weißrussland.
Wenn Sissi nach Süden blickte, ließ der Gebirgszug, der sich dort
auftat, zwei Zugwege zu. Sie konnten versuchen an den östlichen oder
den westlichen Ausläufern entlang zu fliegen. Welchen sie schließlich
wählen würden, sollten allein die Wetterverhältnisse des heutigen
Tages entscheiden.
Die Sonne schien zu dieser frühen Stunde schon mit aller Macht und die
Störche waren sich klar, diese günstigen Verhältnisse zu nutzen und
ohne große Verzögerung zu starten. Da der Wind vom nicht allzu fernen
Meer aus Westen blies, blieb es nicht aus, dass der gesamte Trupp
schnell in östlicher Richtung abflog und somit der weitere Weg schon
vorgezeichnet war. Zwischen den Hauptkämmen des Libanon- und
Antilibanon-Gebirges steuerten sie ein weites Hochtal an, das hier vom
Fluss Orontes durchflossen und allgemein auch Beka-Tal genannt wird.
Viele Jahre des Bürgerkriegs haben dieser Gegend mächtig zugesetzt und
fast alle Touristen scheuen sich, die archäologischen Wunder dort in
Augenschein zu nehmen. Dies konnte Sissi bald selbst überprüfen, als
sie über der Stadt Baalbek kreiste. Von den großartigen
spätrömischen Tempeln und Ruinenanlagen war sie selbst aus großer
Höhe noch tief beeindruckt. Doch außer einheimischen Beduinen und
spielenden Kindern konnte sie niemanden in den ausgedehnten
Ausgrabungsstätten erkennen. Links und rechts ihres Weges zogen sich an
den Hängen der Gebirgszüge noch dürftige Bestände der berühmten
Libanonzeder entlang, deren Holz über mehrere Jahrtausende den
Schiffbau wesentlich beeinflusste.
Während des Grübelns und Nachdenkens vergingen die Stunden für
Sissi im wahrsten Sinne des Wortes wie im Fluge. Doch plötzlich traten
die Höhenzüge immer mehr zurück und die Landschaft änderte
schlagartig ihr Gesicht. Aus wüstenartigen Regionen wurden
paradiesische Landschaften. Hier im Dreiländereck Syrien-Libanon-Israel
überquerten Sissi und ihre Begleiter die Grenze ins nicht immer so
heilige Land. Was für Zivilisten momentan nicht möglich ist, gelang
den Störchen mühelos.
Überall entdeckten die Luftreisenden militärische Anlagen,
Radarstationen, Geschützstellungen und in wenigen Orten an den Hängen
der Golanhöhen sogar Storchennester. Seit etwa 25 Jahren hat sich in
dieser Region ein kleiner Bestand von einigen Storchenpaaren etabliert,
der die lange Tradition des "Brutvogels Weißstorch" seit den
Zeiten des Propheten Jesaja fortführt.
Nach der Anlage zahlloser Fischteiche und der Bewässerung weiter
Flächen im Zuge einer Intensivierung der Landwirtschaft hat sich der
Lebensraum für viele Vogelarten verbessert und sich auch zu einem
Überwinterungsgebiet für Kraniche und Weißstörche entwickelt, dem
alljährlich einige Tausend dieser Vögel die Treue halten.
Außerdem befanden sich unsere Weltenbummler jetzt am Anfang eines
Weges, auf dem jährlich ungezählte Millionen kleiner und größerer
Vögel ihrem Winterquartier zustreben. Sie tun dies auf einer
verhältnismäßig schmalen Zugstraße und in einem zeitlich eng
begrenzten Rahmen. Etwa 500.000 Weißstörche, einige Hunderttausend
Wespenbussarde und große Adler fliegen hier in nur wenigen Tagen durch.
Als Jets der israelischen Luftwaffe immer häufiger Zusammenstöße
mit Großvögeln zu verzeichnen hatten, die sogar zu Totalverlusten
mehrerer Maschinen und zum Tod einiger Piloten führten, vergab das
israelische Verteidigungsministerium einen Forschungsauftrag, dessen
Ergebnisse nun in der Kenntnis über Zugverlauf und Zugdauer präzise
vorliegen. So erfolgen Übungsflüge des Militärs entweder in nicht vom
Zug berührten Gebieten oder sie werden auf Zeiten verlegt, in denen die
Zugvögel durch Israel gezogen sind. Dies funktioniert seitdem
ausgezeichnet und Sissi musste sich deshalb während ihres heutigen
Fluges nicht ängstigen, mit einem Düsenjet zu kollidieren. Die Folgen
wären - wie ein Unfall mit zwei ihrer Artgenossen beweist - für beide
Seiten sehr fatal.
Obwohl ein kurzer Stopp im so an Gewässern reichen Hula-Tal
äußerst reizvoll gewesen wäre, zog man es lieber vor, heute noch so
weit wie möglich zu fliegen. Der Jordan, dessen Wasser für die
Grenzregion ein echtes Politikum darstellt und gleichzeitig für die
enorme Fruchtbarkeit verantwortlich zeichnet, diente unseren Störche
zunächst als Leitlinie für den weiteren Weg.
Als der See Genezareth unter der Reisegruppe erschien, waren alle ein
wenig stolz, persönlich an der Stelle zu sein, an der Jesus gelebt und
gewirkt hatte. Man verließ nun den Lauf des Jordan und drehte leicht
nach Westen ab. Kurz hinter Nazareth, dem langjährigen Wohnort Jesu,
erreichten die Störche mit dem Westjordanland auch autonomes
Palästinensergebiet. Kaum ein Tag vergeht, an dem uns nicht meist
schlimme Nachrichten von dort erreichen und Sissi bekam es nun doch
etwas mit der Angst zu tun, wenn sie sich an die vergeblichen
Friedensbemühungen erinnerte. Einige Kilometer westlich von Nablus
setzte man schließlich doch schon zur Landung an. Nach abermals fast
300 Kilometern reibungslosen Fluges sicher nicht zu früh.
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